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zondag 22 november 2015

Wolfgang Gädeke Stigmatisation und Erkenntnis - Peter Tradowsky recensiert

Wolfgang Gädeke
Stigmatisation und Erkenntnis
Verlag Urachhaus Stuttgart 2015
In seinem 2015 erschienenen Buch setzt sich Wolfgang Gädeke mit den Aussagen Judith von Halles auseinander und damit auch mit ihrer durch die Stigmatisation grundsätzlich veränderten Leiblichkeit und Bewusstseinsverfassung. Letztlich will er – wie er meint - das Fragwürdige oder Unhaltbare einiger ihrer Aussagen belegen. Mit einer Überfülle von einseitiger Gelehrsamkeit, die beeindruckt und wohl auch beeindrucken soll, will er zeigen, dass die Darstellungen Judith von Halles mit den Aussagen des Neuen Testamentes und denen Rudolf Steiners nicht übereinstimmen, während sie selbst auf diese Übereinstimmung wert legt und immer wieder auf diese hinweist. Dadurch soll - umfang- und wortreich - ihre Glaubwürdigkeit in Frage gestellt und sozusagen vor ihr gewarnt werden. Würde das Buch auf ein Drittel, ja ein Viertel seines Umfangs zusammengestrichen, kämen die eigentlichen Aussagen des Autors besser zu Geltung.

Als erstes wird die Darstellung der Jordantaufe untersucht. Johannes hat bei der Taufe den Menschen tatsächlich so lange unter Wasser gehalten, bis durch den beginnenden Sterbeprozess der Ätherleib sich lockert und die Lebensrückschau beginnt. Dadurch wurde der Mensch seiner Sünden gewahr und konnte zu einer Lebensumkehr kommen. Bei dem nathanischen Jesus war eine solche Einsicht in die menschliche Sündhaftigkeit nicht notwendig, weil er an der Entwicklung durch Erdenleben nicht teilgenommen hatte, sündenrein war. Insofern ist der Schluss von der Taufe des gewöhnlichen Menschen auf die Jordantaufe des Jesus von Nazareth keineswegs einleuchtend und überzeugend. Für Rudolf Steiner kommt es nur darauf an, dass der Ätherleib des Jesus so gelockert wird, dass der Christus-Geist den Jesus-Leib ergreifen, in ihn einziehen kann. In vielen bildlichen Darstellungen der Taufe Jesu wird dieser als im Wasser stehend dargestellt. Immerhin ist daran zu erinnern, dass die stigmatisierte Anna Katharina Emmerick die Taufe Jesu auch so beschrieben hat wie Judith von Halle, was auf einer gleichartigen Wahrnehmung beruht.
So ist festzuhalten, dass es diese unterschiedliche Darstellung der Taufe Jesu gibt. Aber ist es nicht wesentlicher, das Übereinstimmende zu sehen: die beginnende Inkarnation des Christus-Geistes in den Menschen Jesus von Nazareth?! Und von dieser wird übereinstimmend berichtete.
Eine weitere Frage ist: Wie hat das Kreuz auf Golgatha sinnlich-sichtbar ausgesehen? War es ein Y-Kreuz, ein Gabelkreuz, ein T-Kreuz oder ein lateinisches Kreuz? Übereinstimmend sprechen die drei Stigmatisierten aufgrund ihrer Wahrnehmungen von dem Gabelkreuz auf Golgatha. Für Gabelkreuze gibt es in der Christenheit durchaus Beispiele, aber ganz überwiegend wird das T-Kreuz und vor allem das lateinische Kreuz dargestellt. Dies letztere findet sich auch bei Rudolf Steiner. Diese Kreuzesform kann umfassend und tiefgehend in ihrer Bedeutung erfasst werden, was W. Gädeke auch leistet. Grundsätzlich ist es aber nicht möglich, durch Gedanken irgendetwas über den Inhalt einer Sinneswahrnehmung auszusagen. Das ist ein methodischer Fehler, denn das Denken erfasst Gedanken, das Wahrnehmen Wahrnehmungen. So kann durch bloßes Denken nichts über die historische Kreuzesform ausgesagt werden. Judith von Halle kann aber – wie auch Anna Katharina Emmerick – wie ein Augenzeuge konkrete Angaben machen.
Auch bei der kritischen Auseinandersetzung W. Gädekes mit der Abendmahldarstellung Judith von Halles geht es ihm letzten Endes doch nur darum, die Darstellungen Judith von Halles in Frage zu stellen oder ihr mehr oder weniger bedeutende Fehler nachzuweisen.

Mit dem umfangreichen Kapitel „Die Auferweckung des Lazarus“ (S. 99 bis S. 150) ist es notwendig, sich ausführlicher zu befassen. Da geht es um die fundamentale Frage, wie die Auferweckung des Lazarus zu verstehen ist, bzw. was sich dabei sichtbar und unsichtbar ereignet hat. Zunächst sei an ein Wort Rudolf Steiners erinnert, das von grundsätzlicher Bedeutung ist und leider in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt wird. In dem letzten (10.) Vortrag des Zyklus „Von Jesus zu Christus“ heißt es: „So kann manches auch heute nur als halbe Wahrheit angedeutet werden. Wer Geduld hat, um mit uns zu gehen, sei es in dieser oder in einer anderen Inkarnation, je nach seinem Karma, wer gesehen hat, wie aufgestiegen werden konnte von der Beschreibung des mystischen Weges im christlichen Sinne bis zur Beschreibung der objektiven Tatsache dessen, was eigentlich der Sinn dieser christlichen Einweihung ist, der wird auch sehen, dass noch viel höhere Wahrheiten aus der Geisteswissenschaft heraus im Verlaufe der nächsten Jahre oder des nächsten Weltalters werden zutage gefördert werden.“ (S. 214) Also das, was in diesem Zyklus an tiefgehenden Erkenntnissen über Tod und Auferstehung Christi vermittelt wird, ist nur die „halbe Wahrheit“. Wie alle Wissenschaften ist auch die Geisteswissenschaft nicht ein abgeschlossenes System, insbesondere nicht in Beziehung auf die Christus-Wesenheit.
Und immer ist auch an das Novalis-Wort zu erinnern: „Wer hat die Bibel für geschlossen erklärt? Sollte die Bibel nicht noch im Wachsen begriffen sein?“ (Novalis: Paralipomena zu Glauben und Liebe Nr. 344)
In dem Zyklus „Das Johannes-Evangelium“ (GA 103) hat Rudolf Steiner auf die Problematik der Evangelium Darstellung der Lazarus-Johannes-Wesenheit hingewiesen. „Sie werden sehen, dass es zwar in einer sehr verschleierten Darstellung geschieht, dass sie sich aber für den, welcher eine solche verschleierte Art überhaupt entziffern kann, als Einweihung darstellt.“ Mit diesem Hinweis korrespondiert die kurz vorher stehende Aussage: „Für den Übergang sollte jemand noch einmal auf die alte Art eingeweiht werden, aber in die christliche Esoterik.“ (GA 103, 1962, S. 72/73) Die alte Einweihung und die christliche Esoterik bilden aber den Gegensatz von alt und neu. In Lazarus vollzieht sich der Übergang von der alten zu der neuen Einweihung, wodurch er zum Johannes wird. Das Einzigartige an diesem Übergang ist aber, dass er nicht mit dem todähnlichen Schlaf, sondern mit dem tatsächlichen Tod endet.
Denn Johannes ist in die christliche Esoterik eingeweiht. Das sind deutlich zwei Vorgänge; der zweite ist das Geborenwerden eines neuen Gliedes der Menschenwesenheit. Von diesem Geborenwerden spricht Judith von Halle. Auf diese Andeutungen Rudolf Steiners sollte hingewiesen werden, um einen Übergang zu der Darstellung Judith von Halles zu schaffen, die also keineswegs im Widerspruch zu diesen Hinweisen Rudolf Steiners steht.
In Beziehung auf die Lazarus-Johannes-Wesenheit ist doch die entscheidende Frage: Hat diese Wesenheit eine materielle, leibliche Kontinuität oder nicht? Gädeke bejaht das, J. von Halle verneint das. Die von J. von Halle dargestellte Auffassung ist zweifellos etwas Neues, das so weder durch die Evangelien noch durch die Darstellungen Rudolf Steiners direkt gestützt wird, sonst wäre es ja nicht etwas Neues. An Lazarus wurde die alte, vorchristliche Einweihung von Christus selbst vollzogen, die durch das Lockern des Ätherleibes zu einem Erleben der Geistwelt wie nach dem Tode führte. Dabei war der Einzuweihende in den todähnlichen Tempelschlaf versenkt, aus dem er zurückgeholt werden musste, um Zeugnis ablegen zu können von der Wirklichkeit des Geistes. An Lazarus wird diese alte Form der Einweihung zum letzten Mal vollzogen und damit auch beendet. Damit endet auch das Erdenleben des reichen Jünglings Lazarus, was so nicht im Evangelium berichtet wird. Das Ende ist da, das Nichts, nun kann nur die Schöpfung aus dem Nichts kommen.
Für Lazarus wird von Christus – wie in einer Vorwegnahme der Auferstehung - ein neuer physischer Leib geschaffen, das „Phantom“, der „Geistleib“, der „unverwesliche Leib“, der „zweite oder neue Adam“, die „Formgestalt des Menschen als der reale Gedanke in der Außenwelt“. Mit diesen vielfältigen und vielschichtigen Ausdrücken charakterisiert Rudolf Steiner in dem Zyklus „Von Jesus zu Christus“ (GA 131) das, was durch die Auferstehung Christi geschieht und der weiteren Erdenentwicklung einverleibt wird. „Seine Auferstehung ist ein Geborenwerden eines neuen Gliedes der menschlichen Natur: eines unverweslichen Leibes.“(Dort: 7. Vortrag) An dem Jünger, den Er lieb hatte, vollzieht Christus schon vorab diesen Akt. Aber es heißt auch in dem selben Vortrag: „Aber es trat eben das Ereignis von Golgatha ein und bewirkte eine vollständige Wiederaufrichtung der verlorenen Entwicklungsprinzipien des Menschen.“ Von Golgatha geht der Blick in die ferne Vergangenheit und in die weite Zukunft. Durch die von Christus an Lazarus vollzogene Verleihung des Phantoms, des unverweslichen Leibes, wird Lazarus zu dem Jünger Johannes, den der Herr lieb hatte. Den Wesensaufbau dieses Jüngers stellt J. von Halle nun so dar: der physische Leib ist ein Geistleib, das Phantom, das unverweslich ist, das ihm von Christus selbst verliehen wird; den Ätherleib hat er von Johannes Zebedäus erhalten. In dieses Leibesgebilde ist eingegliedert der Astralleib und das Ich des Lazarus, das in Verbindung steht mit den geistigen Gliedern von Johannes dem Täufer. Das Besondere an dieser Leiblichkeit ist, dass sie irdische Substanz in sich eingliedert und dadurch sinnlich sichtbar wird, so wie das auch bei der Christus-Wesenheit gewesen ist, die im Erdenleben in einem sinnlich sichtbaren physischen Leib erschien.
Diese Darstellung der Lazarus-Johannes-Wesenheit stützt sich in Beziehung auf den physischen Leib, den Geistleib, und in Beziehung auf den Ätherleib (Johannes Zebedäus) nicht auf die unmittelbare Autorität Rudolf Steiners. Sie erweitert und vertieft die Erkenntnis des Lazarus, der „als er des Christus Genosse auf Erden war, dasjenige, was er durchgemacht hatte, als er von Lazarus durch die Initiation des Christus Jesus zu dem Johannes geworden ist.“ (Letzte Ansprache, GA 238, Ausgabe 1974, S. 169)
Diese fragmentarische Aussage ist von Frau Dr. Kirchner-Bockholt wie folgt ergänzt worden: „Lazarus konnte aus den Erdenkräften heraus sich in dieser Zeit nur voll entwickeln bis zur Gemüts- und Verstandesseele; das Mysterium von Golgatha findet statt im vierten nachatlantischen Zeitraum, und in dieser Zeit wurde in Vollkommenheit entwickelt die Verstandes- oder Gemütsseele. Daher musste ihm von einer anderen kosmischen Wesenheit von der Bewusstseinsseele aufwärts Manas, Buddhi und Atman verliehen werden. Damit stand vor dem Christus ein Mensch, der von den Erdentiefen bis in die höchsten Himmelshöhen reichte, der in Vollkommenheit den physischen Leib durch alle Glieder bis zu den Geistesgliedern Manas, Buddhi, Atman in sich trug, die erst in ferner Zukunft von allen Menschen entwickelt werden können.“(Ebd. S. 175)
Diese Zusammenfassung korrespondiert mit der oben zitierten Aussage über das Geborenwerden eines neuen Gliedes der Menschenwesenheit. Insofern es sich bei der Darstellung Judith von Halles um eine durch Erfahrungen erworbene neue Erkenntnis handelt, die nicht im Widerspruch zu der Rudolf Steiners steht, ist es natürlich jedem frei gestellt, sie aufzugreifen oder abzulehnen.
W. Gädeke erschließt sich diese Gliederung der Lazarus Wesenheit, wie sie J. von Halle vermittelt, nicht. Letztlich ist er der Ansicht, dass „sich ihre vielfach fantastisch erscheinenden Darstellungen für eine Erklärung dieser Fragen erübrigen.“ (S. 149) Die Bedeutung, die die Eingliederung des Geistleibes in die Lazarus-Johannes-Wesenheit für die zukünftige Entwicklung des Christentums hat, kann er nicht erkennen. Insofern geht seine Kritik an den Darstellungen J. von Halles vorbei.
Das vierte Wort Jesu am Kreuz“ wird von Gädeke in seinem Buch ab Seite 187 behandelt, vor allem um zu zeigen, dass die Darstellung Judith von Halles in ihrem Buch „Und wäre Er nicht auferstanden...“ (besonders in dem Vortrag: Das Mysterium von Golgatha als Ende der alten und Beginn der neuen Einweihung ab S. 65) im Wesentlichen verfehlt ist. Dabei geht es um die Worte Jesu, die im Deutschen mit „Du hast mich verlassen“ bzw. „Du hast mich erhöht, verherrlicht“ wiedergegeben werden. Rudolf Steiner hat über beide überlieferte Versionen gesprochen und beiden einen Sinn gegeben, wobei er einmal die Übersetzung „verlassen“ als falsch und „erhöhen“ als die richtige bezeichnet. (Gädeke S. 188) Aus der Tatsache, dass Rudolf Steiner später in den Zyklen „Das Matthäus-Evangelium“ und „Das Markus-Evangelium“ nur über die Bedeutung „verlassen“ spricht, scheint Gädeke zu schließen, dass Rudolf Steiner von seiner früheren Darstellung abgerückt, dass sie nicht mehr so bedeutungsvoll sei. Auf diese Weise kommt Gädeke dazu, alle Darstellungen als verfehlt hinzustellen, die gerade zeigen, dass die gegensätzlichen Worte wesentlich sind, um das Sterben Christi am Kreuz zu verstehen. So weist er auch Judith von Halles Darstellung zurück, die sie auf Grund der von ihr gehörten Christus-Worte gibt. Abgesehen von der wortreichen Belehrung, die doch nur von einem winzigen Kreis von Spezialisten nachvollzogen werden kann, ist das Ergebnis dieser Untersuchung, dass Christus am Kreuz nicht von Erhöhen oder Verherrlichen gesprochen hat. Gädeke vermeidet zwar klar zu sagen, dass er damit auch in einen Widerspruch zu Rudolf Steiner gerät, der zwar von Fortschritten, Vertiefungen seiner geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse gesprochen hat, nie aber von der Rücknahme solcher Erkenntnisse. Und so ist es erstaunlich, dass sich Gädeke der doppelte Sinn des Christus-Wortes nicht erschließt, obwohl das aus der gegebenen Darstellung immerhin möglich wäre.
Was in dem genannten Vortrag von Judith von Halle angedeutet ist, sei hier auf einem anderen Weg ausgeführt, um die das Wesentliche verdeckende Kontroverse zu überwinden. In einer erhabenen Weise ist in dem Sterben Christi am Kreuz das Urbild, auch das Vorbild des Sterbens jedes Menschen gegeben. Denn tatsächlich spielen sich in dem Sterben jedes Menschen die gegenläufigen Vorgänge ab: das Ich löst sich, verlässt immer mehr die drei Leibesglieder, diese Lösung des Ich wird – besonders auch von den Miterlebenden – als Verlassen in dem Sterbevorgang erlebt, das Ich steht für sich allein, einsam vor der Pforte der geistigen Welt.
Und polar dazu ereignet sich die höchst mögliche Durchdringung des physischen Leibes durch das Ich, in dem die polaren Vorgänge vereinigt sind. Das ist das Erhöhen, das Verherrlichen des Geistes durch das Ich in der Materie. Das findet sich z.B. in einer Darstellung Rudolf Steiners in der „Allgemeinen Menschenkunde“ (5. Vortrag, Schluss): „Denn die Wirklichkeit ist nicht in der Umgebung, ist auch nicht in der Erscheinung, sondern es ist so, dass die Wirklichkeit erst nach und nach auftaucht durch unser Erobern dieser Wirklichkeit, so dass das Letzte, was an uns herantritt, erst die Wirklichkeit ist. Im Grunde genommen wäre das die richtige Wirklichkeit, was der Mensch in dem Augenblicke erschaut, wo er sich nicht mehr aussprechen kann, in jenem Augenblicke nämlich, wo er durch die Pforte des Todes geht.“
Dieser Atemvorgang beim Sterben des Menschen kann auch medizinisch verstanden werden: „So sind es wieder die astralischen Kräfte, die in Todesnähe die Einatmung einseitig vertiefen. Dieser Atemtypus führt schließlich zum 'Singultus', zu heftigen, vereinzelten Inspirationen. Immer tiefer senken sich die astralischen Kräfte in die Leiblichkeit, bis sie zuletzt das Ätherische völlig verdrängen und in einer allerletzten tiefen Inspiration das Leben endet:“ (Lothar Vogel: Der dreigliedrige Mensch, Dornach 1979, S. 190)
In diesem Sinne ist erst im Sterben der Höhepunkt der Inkarnation gegeben, der Mensch dringt mit seinem Astralleib und Ich ein in die Substanz der Erde, mit der sich Christus durch die Auferstehung verbunden hat. Das einzigartige ist, dass Christus dieses Todes-Erleben des Menschen mit den Worten „erhöhen“ oder „verherrlichen“ aussprechen kann. So kann auch das Wort empfunden werden: In Christo morimur. Judith von Halle hat auf ihrem Weg versucht, diesen doppelten Sinn des Christus-Wortes zu erkennen und verständlich zu machen. Letzten Endes kommt es doch darauf an, die Worte und Taten Christi zu verstehen.

Ein merkwürdiges Missverständnis ist es, wenn Gädeke meint, einen Gegensatz zwischen dem plötzlichen Auftreten der Stigmata und dem allmählichen, grad- und schrittweisen Empfangen des Phantoms zu bemerken. Denn in dem plötzlichen Auftreten der Stigmata findet im Grunde der selbe Vorgang statt, nur schneller und umfassender. Aber auch der Stigmatisierte behält den Erb-Leib und ist nach wie vor eine sinnlich sichtbare Erscheinung.

Nicht nachzuvollziehen ist, dass Gädeke „die Aussage, dass der unverwesliche Leib dem Menschen von Erdenleben zu Erdenleben bleibt“ nur als eine Behauptung ansehen kann, „die sich kaum auf eine Äußerung Rudolf Steiners stützen kann.“(S. 169) Hier kann es sich doch nur um ein elementares Missverständnis handeln. Denn: „In einem Leben erscheint der Geist des Menschen als Wiederholung seiner selbst mit den Früchten seiner vorigen Erlebnisse in vorhergehenden Lebensläufen. Dieses Leben ist somit die Wiederholung von andern und bringt mit sich, was das Geistselbst in dem vorigen Leben sich erarbeitet hat.“( Theosophie, Kapitel: Wiederverkörperung des Geistes und Schicksal) Diese geisteswissenschaftliche Grunderkenntnis gilt für alles, was sich das Ich erarbeitet, also auch für das, was sich das Ich in Beziehung auf den „unverweslichen Leib“ erarbeitet hat. Aus der geistigen Arbeit des Ich gehen aus der Umwandlung des physischen, ätherischen und astralischen Leibes der Geistesmensch, der Lebensgeist und das Geistselbst hervor. Diese geistigen Glieder sind als solche unzerstörbar, sie bleiben dauerhaft mit dem Menschen verbunden; was geistig in Wahrheit erarbeitet wurde, kann in einer folgenden Inkarnation nicht verloren gehen. Es kann unwirksam sein, in den Hintergrund treten oder verdeckt werden, aber es bleibt in der Gesamtwesenheit des Menschen erhalten.

Ein dem entsprechendes Missverständnis findet sich auch auf S. 182. Milliarden von Menschen können nach dem Grad ihrer individuellen spirituellen Entwicklung eben gradweise etwas von dem Phantom einverleibt bekommen haben. Demgegenüber gibt es eine wahrhaft winzige Zahl von Stigmatisierten, die aus einem einzigartigem Schicksal in einem wesentlich höheren Grad das Phantom empfangen haben, wenn auch nicht umfassend. Die Schicksalsfrage nach dem Grund der Stigmatisation bleibt natürlich offen. Für Gädeke erschließt sich aber das gradweise Empfangen des Phantoms nicht.

Eine grundsätzliche Frage ist mit dem Kapitel „Somnambulismus“ in dem Buch von W. Gädeke aufgeworfen, die Frage nämlich, inwieweit es überhaupt berechtigt ist, die Stigmatisation als etwas anzusehen, was durch den Begriff „Somnambulismus“ verstanden und geklärt werden kann. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Worte „somnambul“ und „Somnambulismus“ keineswegs wertfrei sind, sie sind im Sprachgebrauch stimmungsmäßig schwer belastet. Insofern bringt Gädeke Judith von Halle und alle Stigmatisierten in einen Zusammenhang, der ihnen durchaus nicht gerecht wird. Denn die Stigmatisierten erleben – oder besser gesagt – erleiden ein im höchsten Maße ungewöhnliches, einzigartiges Schicksal.
Gädeke legt in dem umfangreichen Kapitel „Somnambulismus“ (S. 201 bis 244) im Wesentlichen dar, dass es in Rudolf Steiners Darstellungen des Somnambulismus zwei Arten desselben gibt, eine die als bedenklich, eine die als erkenntnismäßig weiterführend anzusehen ist. Das eine beruht auf einer Art Verdichtung, Verkrampfung, das andere auf einer Lösung, Lockerung des Ätherleibes. Gädeke sieht Anna Katharina Emmerick als eine solche „gute“ Somnambule an, so wie diese angeblich von Rudolf Steiner einmal als eine „außerordentlich gute Somnambule“ bezeichnet wurde. Damit ist aber nichts über den Zusammenhang von Somnambulismus und Stigmatisation gesagt. Rudolf Steiner hat nirgends von einem Zusammenhang von Somnambulismus und Stigmatisation gesprochen.
Das kann schon ein Blick auf die Zahlen lehren. Denn es gibt wohl eine große Zahl von Somnambulen, aber nur eine winzige Zahl von Stigmatisierten. Seit Franziskus von Assisi hat es wohl einige Milliarden Christen gegeben, von denen mehr oder weniger viele als somnambul bezeichnet werden können, aber nur etwa dreihundert Stigmatisierte. Die schicksalhaft eintretende Stigmatisation ist also eine geradezu solitäre Erscheinung.
Die Stigmatisation ist nicht nur ein Geschehen im ätherischen und astralischen Leib, sondern vor allem ein Ereignis, das eine radikale Veränderung am physischen Leib hervorruft. Die Stigmata sind eine sinnlich sichtbare leibliche Erscheinung, das aus ihnen fließende Blut zeigt die Umwandlung des Blutsystems an, das Auftreten der Blutungen zu bestimmten Zeiten ist Folge des unmittelbaren Darinnenstehens in dem kosmischen Zeitenstrom. Die Nahrungslosigkeit ist nur möglich aufgrund eines völlig andersartigen Aufbaus der organischen Leiblichkeit, die Abbau der Nahrungsmittel und Aufbau der Körperlichkeit nicht kennt. Wie auch immer diese Phänomene gedeutet und erklärt werden mögen, sie stellen in der physischen Welt etwas dar, was nicht nur an den Fundamenten der heutigen materialistischen Welt rüttelt, sondern diese ad absurdum führt. Die Welt wird in ihren Grundfesten von der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnis nicht erfasst. Daher ist der Unglaube durchaus verständlich, den insbesondere Ärzte – auch anthroposophische – dem Phänomen der Stigmatisation entgegenbringen. Dabei gehört es zu den geisteswissenschaftlichen Grunderkenntnissen, dass im Menschen neue Kräfte und neue Stoffe gebildet werden. Im dritten Vortrag der „Allgemeinen Menschenkunde“ (GA 293) heißt es: „Sobald man nämlich meint, dass niemals Kräfte wirklich neu gebildet werden, wird man nicht zu einer Erkenntnis des wahren Wesens des Menschen gelangen können. Denn dieses wahre Wesen des Menschen beruht gerade darin, dass fortwährend durch ihn neue Kräfte gebildet werden. Allerdings in dem Zusammenhang, in dem wir in der Welt leben, ist der Mensch das einzige Wesen, in welchem neue Kräfte...und sogar neue Stoffe gebildet werden.“ Und am Schluss dieses Vortrags steht: „Was geschieht denn tatsächlich in der menschlichen Wesenheit? Auf der einen Seite steht die Knochen-Nervennatur, auf der anderen Seite die Blut-Muskelnatur. Durch das Zusammenwirken beider werden fortwährend Stoffe und Kräfte neu geschaffen. Die Erde wird vor dem Tode dadurch bewahrt, dass im Menschen selber Stoffe und Kräfte neu geschaffen werden.“
Solche Erkenntnisse sollten berücksichtigt werden, wenn über die Stigmatisation gesprochen wird. Denn diese zeigt doch leibhaftig eine radikale Umwandlung der Menschen-Natur. Das Auftreten der Stigmata an einem Menschen kann als ein Zeichen verstanden werden, das wie eine Botschaft der geistigen Welt zu den Menschen spricht, die Frage aufwerfend nach dem Christus-Wesen. Denn die Stigmata erinnern daran, dass sie zuerst an dem Auferstandenen erschienen sind. Indem Gädeke den Somnambulismus ausführlich in dem von ihm vermuteten Zusammenhang mit der Stigmatisation behandelt, verdeckt er diese selbst fast ganz.

Vor allem berücksichtigt Gädeke den konkreten Gegenwarts-Menschen Judith von Halle nicht. Er geht auch mit keinem Wort auf die von ihr in ihren Büchern vielfach dargestellte Forschungsmethode ein. Dadurch wird der Eindruck erweckt, als wäre sie zu einer bewussten wissenschaftlichen Arbeit nicht fähig.
Sie hat Architektur studiert und arbeitet als Architektin. Sie hat Rudolf Steiner Wesen und Werk kennengelernt und fühlt sich mit ihm zutiefst verbunden. Durch das Studium der Geisteswissenschaft hat sie sich diese zu eigen gemacht, so dass sie schon vor ihrer Stigmatisation anthroposophische Vorträge gehalten hat, was meist vergessen wird.
Die Stigmatisation ist in der Karwoche 2004 spontan und überraschend aufgetreten, ohne dass diese gewollt war, sich angekündigt hätte oder bewusst vorbereitet wurde. Sie ist als ein Schicksalsereignis anzusehen, das wie alle Schicksalsereignisse von der geistigen Welt bewirkt wird und sich aus dem Gang des Ich durch die Erdenleben ergibt. Dieser Gang ist in dem höheren Ich bewusst, verbirgt sich aber dem gewöhnlichen Vorstellungsbewusstsein.
In höchstem Maße ist es zu bedauern, dass dieses Ereignis in dem Kreis der Anthroposophen, in den es doch eintrat, nur von einem mehr oder weniger großen Kreis gewürdigt werden konnte, dass vielmehr ein zersetzender Streit ausbrach. Der Mensch Judith von Halle konnte in seinem Schicksal von einigen nicht verstanden und offen aufgenommen werden, und hätte doch des Schutzes bedurft.


Peter Tradowsky 
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